Man sagt: Lightning never strikes twice. Aber es gibt Ausnahmen. In der Jazzwelt wird der Blitz jetzt ein zweites Mal einschlagen!
Im Juni 2018 veröffentlichte Impulse! Records »Both Directions At Once« ein »verlorenes Album« von John Coltrane, aufgenommen im Jahr 1963, das neue Kompositionen Coltranes, aufgenommen mit seinem Classic Quartet mit McCoy Tyner (Piano), Jimmy Garrison (Bass) und Elvin Jones (Drums), zum ersten Mal ans Tageslicht brachte. Die Resonanz bei Medien und Fans war wie erwartet riesig, das jahrzehntealte Album landete auf Platz 21 der US-Billboard-Charts (Coltranes höchstes Debüt aller Zeiten), führte die Jazz-Charts auf der ganzen Welt an und brachte Coltrane unter die Top-20 der Pop-Charts in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Japan, Italien und vielen weiteren Ländern. Bis dato hat »Both Directions At Once« weltweit mehr als eine Viertelmillion Alben verkauft.
Obwohl es ganz danach aussah, dass es sich hier um einen Jahrhundertfund handelt, hat das Schicksal jetzt ein zweites »Coltrane-Ass« aus dem Ärmel gezogen, denn bei Recherchen im Nachzug zu »Both Directions At Once« fand sich ein weiteres Tonband mit einer bislang komplett unveröffentlichten Session des Meisters.
1964 gingen John Coltrane und sein Classic Quartet in Rudy Van Gelders Studio und nahmen in einem für Coltrane beispiellosen Schritt neue Versionen einiger seiner berühmtesten Kompositionen auf. In dem Jahr, in dem er auch »A Love Supreme« aufnahm, wurde Coltrane von Gilles Groulx, einem kanadischen Filmemacher, kontaktiert. Groulx bereitete seinen Film »Le Chat Dans Le Sac« vor, eine in Montreal spielende Liebesgeschichte mit politischen Untertönen. Groulx, ein eingefleischter Coltrane-Fan, war fest entschlossen, den als schwierig geltenden Saxophonisten einen Soundtrack für seinen Film kreieren zu lassen. Groulx trat über einen persönlichen Kontakt zu Bassist Jimmy Garrison an Coltrane heran, und dieser stimmte erstaunlicherweise zu.
Kurzentschlossen trommelte Coltrane seine Quartett-Kollegen Jimmy Garrison, Elvin Jones und McCoy Tyner direkt zwischen den Aufnahmen für die inzwischen legendären Alben »Crescent« und »A Love Supreme« im Juni '64 in den Van Gelder Studios zusammen um etwas in der Coltrane-Welt Beispielloses zu tun: frühere Werke neu zu interpretieren und aufzunehmen.
Regisseur Gilles Groulx war bei den Aufnahmen anwesend. Heute ist unklar, wie viel kreativen Input der Filmemacher hatte und wie viel kreative Abstimmung zwischen ihm und Coltrane stattfand. Auf ¼-Zoll analogem Mono-Band aufgenommen, wurde die Session am 24. Juni 1964 von Rudy Van Gelder in seinem Studio nicht nur aufgenommen, sondern auch abgemischt und gemastert. Überglücklich nahm Groulx am darauffolgenden Tag das Masterband nach Kanada, obwohl in seinem Film am Ende dann nur zehn Minuten der 37- Minuten Aufnahme Verwendung fanden. Für die weltweit erste Veröffentlichung der Musik wurde »Blue World« jetzt von Kevin Reeves bei Universal Music Mastering in New York vom ursprünglichen Analogband neu gemastert, die Vinyl-Edition wurde von Ron McMaster in den Capitol Studios geschnitten.
»Blue World« demonstriert Coltranes künstlerische Entwicklung zusammen mit seinem Classic Quartet an einem Fixpunkt seiner Karriere. Es ist bezeichnend, dass diese Session zwischen zwei von Coltranes expansivsten, spirituell transzendentesten Platten stattfand, die seine Wahrnehmung von dann an bestimmen sollten.
Eine weitere Coltrane-Entdeckung von Weltgeltung!
Tatsächlich noch ein Album mit unveröffentlichten Studioaufnahmen! Im Juni 1964 (1/2 Jahr vor A Love Supreme) mit seinem klassischen Quartet eingespielt (für einen eher überflüssigen Film), von Rudy Van Gelder aufgenommen/gemixt, remastered von den Originaltapes. Ungewöhnlich für Coltrane: Er nahm dafür alte Stücke aus seinem Repertoire neu auf, die erstmals auf Alben von 1957 bis 1962 erschienen (auf Giant Steps, Traneing In, Coltrane Jazz und Coltrane), freilich bis auf das Titelstück (das eigentlich Out Of This World heißt) in anderen Besetzungen. Großteils in (teils wesentlich) kürzeren Fassungen, es klingt konzentriert, (zumal im Vergleich mit den Originalen) ungeheuer souverän, und meist auch und v.a. irgendwie spiritueller, quasi im Vorgriff auf das, was danach kommen sollte… Und tatsächlich deutlich bis ganz klar (noch) besser! Mit Ausnahme von Blue World, das ich auf ähnlichem Level sehe (aber erheblich anders gespielt!). In diversen Stücken soliert Trane wenig, variiert v.a. das Thema (das aber oft wunderbar), einige erweitern das harmonische Grundgerüst, andere erscheinen in mehrfacher Hinsicht weiterentwickelt. Dabei sind: Das herrliche Naima (2 Versionen; sachte feinfühlige diffizile verzaubernde Schönheit!). Besagtes Titelstück (Classic Trane der Zeit inkl. sehr schneller auch ausbrechender Tonkaskaden, ein aufbrausender Schluß mit leicht freier Tendenz). Like Sonny (agiler, kraftvoller als bekannt, die Latin-Essenz verstärkt). Village Blues (3 Versionen, Blues-basiert, lebendiger, das Original wirkt statischer). Traneing In (wohl das „konventionellste“ Stück hier, trotz avanciertem Spiel gegen Schluß). Fazit: Nicht so essentiell wie Both Directions At Once letztes Jahr, aber erstklassig, und lohnend auf alle Fälle!
(dvd, Glitterhouse)