Christian Burchard, der das Ensemble Embryo gründete, liebte den Slogan "Auf Auf", deutsch für "Up, Up" oder "Keep On Going". Jeder, der sich auch nur ein bisschen für die deutsche Krautrock-Szene der 1970er und 1980er Jahre interessiert, weiß, dass Burchard diesem Motto in der ganzen Welt folgte, unermüdlich nach neuen Klängen und Inspirationen suchte und einen Katalog von Musik schuf, wie ihn die Welt noch nie gehört hat.
Madlib hat oft gesagt, Embryo sei seine Lieblingsrockband. Natürlich weiß der Hip-Hop-Produzent mit dem tiefsten musikalischen Wissen, dass Embryo mehr als nur eine Rockband ist.
Als Marja Burchard, Christans Tochter, die mit Embryo aufgewachsen ist und jahrelang mit ihnen auf Tournee war, nach Christians Tod 2018 die Leitung des Ensembles übernahm, begann sie mit den Aufnahmen zu dem Album Auf Auf. Es wurde über einen Zeitraum von zwei Jahren aufgenommen und inmitten der Covid-Pandemie im Jahr 2020 fertiggestellt. Sie wandte sich an Madlib und Egon - die Christian Burchard und Embryo-Musiker vor Jahren in einem bayerischen Weinkeller besucht und mit ihnen gejammt hatten - mit der Idee, Auf Auf auf Madlib Invazion zu veröffentlichen. Die Antwort war ein schallendes, definitives Ja.
Hier ist also Marjas Interpretation des Embryo-Ethos, die den unerschrockenen Stil ihres Vaters fortführt und die Band in ihrem eigenen Stil leitet. "Auf Auf" reicht vom tiefen, freien Jazz in "Alphorn Prayer" über modale Musik aus Afghanistan in Baran" bis zum psychedelisch angehauchten Jazz-Rock des Titeltracks.
An der Seite von Marja spielen unter anderem die Embryo-Veteranen Bunka (Oud und Gitarre) und Karl Hector and the Malcouns/Whitefield Brothers/Poets of Rhythm Produzent und Gitarrist Jan Weissenfeldt, darunter wichtige Akteure der globalen Szene aus Afghanistan und Marokko.
Otis Jackson Jr. Alias Madlib ist berühmter HipHop-Produzent und einer der größten Musikvermittler auf der ganzen Welt. Er hat keinen YouTube Kanal, keine Website – er führt ein zurückgezogenes Leben in Kalifornien — mit seinen Gerätschaften und etwa vier Tonnen Schallplatten. Er hat kein Archiv im klassischen Sinn. Fotos seiner Lebenswelt erinnern eher an ein Meer aus Vinyl, in dem er sich bewegt. Wenn er HipHop produziert, dann versatzstückt er Musik aus aller Welt. Wenn ein Stück aus seiner Plattensammlung erkannt wird, dann wird Musik wiederentdeckt, gesucht, wieder veröffentlicht — sie rückt ins Bewusstsein der globalen Musikgemeinde. Viele Menschen lernen auf diese Weise Musik kennen. Und wenige Menschen auf diesem Planeten haben so viel unterschiedliche Musik gehört wie Madlib. Doch wenn man ihn nach seiner Lieblingsband fragt, dann zeigt die Antwort nach München. Madlib liebt Embryo.
Von allen Münchner Bands, ist Embryo mit Abstand die internationalste. Dabei ist sie nicht einmal weltbekannt. 1969 schafft Gründer Christian Burchard ein musikalisches System, das sich gängigen Zuschreibungen entzieht. Embryo waren weder Krautrock noch Jazz, schon gar nicht Pop - Embryo schlagen Wurzeln in der ganzen Welt. Sie bespielen einen Raum der Neugierde und des Lernens, abseits der Leitkultur. Es gibt Gerüchte, sie hätten sich eines Nachts Instrumente aus dem Münchner Völkerkundemuseum „geliehen“ (und in einer anderen Nacht zurückgebracht).
Es ist eine steil anmutende These, aber vielleicht stimmt es ja: Keine Band der Welt hat so viele Konzerte gespielt, wie Embryo. Denn Embryo spielt in fünfzig Jahren überall wo etwas geht: Ihr Bus hält für Fernsehauftritte in Japan, auf Campingplätzen in Portugal, für ausverkaufte Hallen in Kalkutta, zu Straßenkonzerten in Tunesien — sie spielen in bayerischen Dörfern, vor Münchner Bioläden und Bibliotheken, in Clubs, Kommunen, Bürger*innenhäusern, auf gigantischen Open-Air-Konzerten — über fünfzig Jahre unfallfrei. Zumindest für Bandgründer Christian Burchard muss sich das ganze Leben wie ein einziges nicht enden wollendes Konzert angefühlt haben. Gibt es überhaupt Münchner*innen, die nie einem Embryo-Konzert beigewohnt haben? Jedoch: Bandmitglied bei Embryo zu sein, erfordert große Opfer. Das System der Band kennt keinen Komfort und ist entkoppelt von kommerziellem Verwertungszwang. Es stellt die Schönheit der Zusammenkunft über das Ergebnis und das, was andere Erfolg nennen. Und es lebt unterhalb des Existenzminimums. In letzter Konsequenz hat das nur Christian Burchard durchgehalten – dafür hat er sich über die Jahrzehnte mit über 400 wechselnden Mitgliedern verbunden. So entwickelt sich Embryo zum Anknüpfungspunkt für immigrierte Musiker*innen. Nicht selten stehen sie am Tag der Ankunft in Deutschland schon mit Embryo auf der Bühne. Ermunterung, Ermächtigung und unendliches Interesse an den musikalischen Formen der Welt schaffen einen Erfahrungsraum ohne Grenzen. Wenn wir eine neue Welt sein wollen, dann müssen wir die Welt sein!
2018 endet Christian Burchards tour de force im menschlichen Gewand. Er verstirbt nach langer Krankheit und hinterlässt weitverzweigte globale künstlerische und politische Allianzen, ein Haus voller Instrumente und Musikkassetten — und eine Band. Seine Tochter Marja Burchard führt seitdem die Geschicke Embryos. Sie ist seit der Kindheit Mitglied, spielt fantastisch Keyboard und Piano, Posaune, Schlagzeug, Vibraphon, war auf unzähligen Tourneen dabei — die Übergabe wirkt von langer Hand geplant. Nicht ausgeschlossen, dass Christian und Marja eine Seele sind, die sich in zwei Körpern manifestiert.
Vor kurzem erscheint „Auf Auf“, das erste Studioalbum von Embryo nach Papa Christians Ableben. Veröffentlicht wird es in den USA. Und da sind wir wieder bei Madlib, denn der hat mittlerweile ein Plattenlabel gegründet: Madlib Invazion. Der Bandgeschichte fügt dies ein neues Kapitel hinzu. Und es sorgt für wohlverdiente internationale Aufmerksamkeit.
(Sebastian Reier, Münchner Kammerspiele)