In alter Frische
Für einen produktiven Künstler wie Richard Thompson sind sechs Jahre Pause zwischen zwei Platten eine kleine Ewigkeit. Umso schöner, dass sich der ehemalige Gitarrist von Fairport Convention nun mit seinem neuen Album »Ship To Shore« in alter Frische zurückmeldet.
Sein mittlerweile 19. Solowerk folgt auf das gefeierte »13 Rivers«, das vom englischen Uncut Magazine als »sein bestes Album seit Jahrzehnten« bezeichnet wurde. Für die Arbeit an »Ship To Shore« zog sich der mittlerweile 75-jährige Gitarrist und Sänger nach Woodstock, New York, zurück. Begleitet wird er auf den zwölf neuen Songs von seiner langjährigen Band und Toningenieur Chris Bittner. Das Team hat schnell gearbeitet – etwa eine Woche für die Aufnahmen, inklusive Gesang.
Beim Schreiben der Songs fühlte sich Richard Thompson instinktiv zu seinen eigenen musikalischen Wurzeln hingezogen. Die neuen Stücke schöpfen aus verschiedenen Stilen, Genres und Epochen, klingen aber unverkennbar nach dem Folk-Rock-Pionier aus London.
Da ist der rumpelnde, Motown-artige Rhythmus, der »Trust« antreibt, und der geradlinige Riff-Rock von »Turnstile Casanova«. Das dröhnende »The Old Pack Mule«, ein »Altherrenlied«, das musikalische Anleihen bei der europäischen Musik aus dem 16. Jahrhundert nimmt, und »Life’s a Bloody Show«, eine Ode an »Schlangenölverkäufer und Gauner«, die auf einer glamourösen, kabarettistischen Melodie schwebt. »Mir gefiel der Gedanke, eine starke Basis zu haben und von dort aus zu arbeiten«, sagt Richard Thompson. »Und ich denke, meine Basis ist die traditionelle britische Musik, aber es gibt auch schottische Musik, irische Musik. Es gibt Jazz, Country und Klassik. Was mich betrifft, wenn du erst mal eine Basis hast, kannst du überall hingehen. Es wird immer noch nach dir klingen, wo auch immer du musikalisch hingehen willst.«
Wie diese Freiheit klingt, demonstriert Richard Thompson auf »Ship To Shore« in Perfektion.
Wir belauern uns wie die Füchse
Richard Thompsons Album „Ship to Shore“ ist das Alterswerk eines großen Künstlers, der die Summe seines Schaffens zieht und es noch einmal wissen will.
Mit Träumen kennt Richard Thompson sich aus, mit Albträumen zumal. Dem erzählenden Teil seiner Autobiographie „Beeswing“, die vor drei Jahren erschienen ist, fügte er einige Seiten mit Traumprotokollen hinzu: die Begegnung mit einem zahnlosen, rätselhafte Sätze sprechenden Jesus in der Londoner U-Bahn, den Versuch, ein Porträt der nörgelnden Joni Mitchell zu deren Zufriedenheit zu malen, und schließlich das unbequeme Sitzen auf einem Müllberg aus alten Waschmaschinen, kopflosen Puppen und dergleichen mehr, die, so wird Thomp¬son allmählich klar, jeweils einen seiner Songs repräsentieren, während er um sich herum lauter ähnliche Müllberge mit anderen Singer/Songwritern entdeckt.
Besonders dieser Traum ist unschwer zu deuten. Die Anhänger des seit den späten Sechzigern aktiven Musikers, der seither viele Hundert Songs geschrieben hat, sehen ihn wohl eher auf einem Berg von Juwelen sitzen. Dass beides zusammengehört, der fundamentale Selbstzweifel und der künstlerische Triumph, ist Thompsons Werk indessen eingeschrieben, das von Verstörungen und Enttäuschungen erzählt, vom Ringen um Inspiration und vom Verlust von Illusionen, meisterlich dargestellt bereits in „The End of the Rainbow“, einem Lied, in dem ein junger Vater sein in der Wiege liegendes Kind darüber aufklärt, dass es keinen Grund dafür gebe, überhaupt aufzuwachsen – kein Gold am Ende des Regenbogens, auch nichts sonst.
Wie Thompson über die Jahre speziell Albträume musikalisch gebannt hat, zeigen frühere Songs wie „I can’t wake up to save my Life“ oder „Snow Goose“, aber von den Splatterfilm-Bildern des einen oder der bedrohlichen Sanftheit des anderen ist in „The Fear Never Leaves You“ nichts zu spüren, einem der herausstechenden Lieder auf Thompsons jüngst erschienener Platte „Ship to Shore“. Der Künstler, in früher Jugend schon ein begnadeter Gitarrist, damals aber noch ein eher limitierter Sänger, setzt seine seither rasant gewachsene stimmliche Virtuosität hier ein, um den nächtlichen Ängsten eines Veteranen einen unvergesslichen Ausdruck zu verleihen. Denn unter der tiefen, souveränen Stimme liegt in der ersten Strophe nur die treibende Perkussion von Thompsons Weggefährten, dem Drummer Michael Jerome, bis Thompsons Gitarre und Taras Prodaniuks Bass einsetzen, etwas später noch die diskrete Harmoniestimme von Thompsons Lebensgefährtin Zara Philips. Das Arrangement ist gewohnt sparsam, aber äußerst effizient, und Thompson insistiert in dringlichen Wiederholungen auf dem offensichtlichen Zen¬trum dieses Lieds: „If you should ¬dream the dreams I dream / You’d never sleep again.“
Zwölf Lieder umfasst das Album, jedes geht musikalisch eine enge Verbindung mit der Färbung des jeweiligen Textes ein, was zugleich die unterschiedlichen Stile in Erinnerung ruft, die Thompsons reiches Œuvre seit seiner Zeit mit der Band Fairport Convention prägen: „Singapore Sadie“ klingt wie ein Shanty in Moll, in „Maybe“ setzt sich die Unsicherheit des Sängers über die Verbindung mit einer undurchschaubaren Frau musikalisch im fortdauernden Wechsel zwischen zwei Dur-Dreiklängen im Ganztonabstand fort, und „The Old Pack Mule“, das grausige Lied über Hunger und notwendigen Egoismus in harten Zeiten, zitiert musikalisch das Mittelalter wie einst Thompsons „One Door Opens“ oder noch früher sein Konzeptalbum „Bones of all Men“, aber entschlossener und mit dem Mut zur stilistischen Dissonanz.
Bei alldem ist die Handschrift des 75 Jahre alten Künstlers überall sichtbar, die Gitarrensoli rühren unverkennbar von ihm her, nicht nur in dem leichtfüßigen „Turnstile Casanova“, das im Intro Thompsons „Nearly in Love“ aus den Achtzigerjahren zitiert. Und während hier eine beendete Beziehung mit der Beobachtung charakterisiert wird, die Liebenden hätten einander gestalkt „like a pair of foxes“, ist die Platte insgesamt frei vom Abwarten, vom Verharren in gewohnten Gleisen. Das Aufbruchsversprechen, das schon in Thompsons ambitioniertem Album „13 Rivers“ von 2018 sichtbar wurde, löst das vor Ideen übersprudelnde „Ship to Shore“ glänzend ein.
(Tilman Spreckelsen, FAZ, 11.06.2024)
Immer wieder zeigt Thompson sich stilsicher in allen Genres, schüttelt Folk, Rock’n’Roll und Balladen nur so aus dem Ärmel, streut seine große Gitarrenkunst wie beiläufig darüber.​
(GoodTimes, Juni/Juli 2024)
Almost a sequel to 2018's 13 Rivers, Ship to Shore reunites Richard Thompson's core band for another confident, self-produced set that plays like an amalgam of his career's disparate styles. Its lean and lively 12 songs were recorded in a single week-long stand at Woodstock, New York's Applehead Recording by engineer Chris Bittner. This follows a trend in Thompson's latter-day output, a renewed emphasis on feel and collaborative interplay over studio layering. It also provides an efficient delivery system for his two biggest assets: great songwriting and sharp, inventive guitar playing. To that end, Ship to Shore is one of the tightest collections he's made in the past quarter-century, exhibiting a wide tonal palette and a vitality belying his 75 years. Its title and maritime imagery are a little misleading; fans expecting bawdy shanties or a nautical epic in the vein of Fairport Convention's groundbreaking "A Sailor's Life" will instead find a particularly saucy set of bruised love songs, droll character studies, and ruminations on time's cruel passage. The signature folk-rock style he helped pioneer remains a baseline of his sound, especially on the loping "Freeze" and "The Old Pack Mule," the latter of which segues into a sprightly electric shuffle that could have come from Morris On or another early-'70s Fairport family gem. The punchy "Turnstile Casanova" has the energy of a '90s-era Thompson cut and slots right in among his countless wry odes to love gone wrong. Of course there is plenty of guitar work to be dazzled by, particularly the revved-up solos on "Maybe" and the wild improvisations at the end of "What's Left to Lose." It's stunning how a player so crafty and experienced can still throw himself into the deep and shred with such vigor. That he also remains a top-notch songsmith and vocalist makes him one of the rare triple-threats who consistently delivers.
(by Timothy Monger, All Music Guide)