Als Robert Rotifer mir seine neuen Songs vorspielte, die am Freitag auf dem Album „Holding Hands In Petropolis" erschienen sind, war ich so begeistert, dass ich ihm gleich einen Waschzettel schreiben wollte - also so einen Info- und Werbetext, wie ihn Labels gerne an potentielle Rezensent:innen verschicken. Ist dann einigermaßen schief gelaufen, denn mein Text wurde eher eine Art Liebeserklärung. Den Waschzettel hat dann wer anders verfasst. Naja. Part of me loves to fail. Hier mein Text
Die Erschöpfung war von Anfang an ein der Popmusik eigener Zustand. Man war erschöpft vom Tanzen, vom Sex, von Drogen oder vom Warten auf Sex und Drogen. Oder einfach von der Welt. Vom Kampf gegen Kriege, Rassismus, Ungerechtigkeit und Ignoranz, von Sinnlosigkeit und Leere. „My weariness amazes me, I’m branded on my feet/ I have no one to meet/ And the ancient empty street's too dead for dreaming“, hat Bob Dylan schon als junger Mann gesungen.
Robert Rotifer, den ich Ende Januar 2007 kennenlernte, als wir beide in einem Hotelzimmer an der Londoner South Bank auf ein Interview mit der Band Arcade Fire warteten und der seitdem zu unser aller Glück ROLLING STONE-Autor geworden ist, hat in den Neunzigern die ancient empty streets von Wien verlassen, um in die britische Hauptstadt und damit ins gelobte Land der Popmusik aufzubrechen und einen Traum zu leben. Und wie immer bei gelebten Träumen kam sehr bald die Wirklichkeit dazwischen. England wurde – wie so viele andere Länder auch – von rechten Populisten verführt. Und es waren schließlich ausgerechnet Angehörige der Generation, die in den Sechzigern allerlei Utopien und Grenzüberschreitungen ausprobiert und so wundervoll freie und befreiende Lieder gesungen hatte, die alle Grenzen schließen und sich vom Rest der Welt mit einer Mauer aus Nationalstolz abschotten wollten. Dann kam die Pandemie. Dann der Krieg in der Ukraine. Und auf den alten Straßen in die Utopien des Pop begegnete einem kaum noch wer.
Als Jean-Luc Godard im September 2022 in der Schweiz aus dem Leben schied und seine Familie daraufhin erklärte „Il n'était pas malade, il était simplement épuisé“ – „Er war nicht krank, er war nur erschöpft“, fühlte Robert Rotifer sich an seinen Landsmann Stefan Zweig erinnert, der 80 Jahre zuvor im Angesicht der Zerstörung seiner „geistigen Heimat Europa“ und „durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft“ mit seiner Frau Lotte im brasilianischen Petropolis aus dem Leben geschieden war. Aber er erkannte in diesen Worten auch sich selbst, seine Freunde und die Welt um ihn herum und schrieb einen achtminütigen Versuch über die Erschöpfung mit dem Titel „He’s Not Ill“, der nun „Holding Hands In Petropolis“ eröffnet. Ein Lied, das wegzudämmern scheint, um dann im entscheidenden Moment doch wieder die Augen aufzureißen, ein Lied, das so fantastisch klingt, dass man Rotifers Reaktion auf die eigene Weltmüdigkeit heraushört: Er hält sich an dem fest, was er trotz so vieler Enttäuschungen und Zweifel, von denen er in den folgenden Liedern so reflektiert berichtet, immer noch am meisten liebt: der Musik. Noch nie hat er seine Lieder mit so viel Liebe zum Detail arrangiert wie hier. All die Virtuosität und Sorgfalt, die er in den vergangenen Jahren in Alben wie André Hellers „Spätes Leuchten“ und Louis Philippes „Thundercloud“ investiert hat, kann man auch hier hören.
Am Ende sehen wir einen Mann in seinen Fünfzigern über die alten verlassenen Straßen gehen. Er ist auf dem Heimweg. Ein Hosenbein ist zerrissen und seine Hand ist zur Faust geballt. Nicht, weil er wütend wäre auf sich oder die vergangene Zeit oder beides, sondern weil er überprüft, ob seine Finger nach einem Sturz auf nasser Straße noch okay sind. Sind sie. Er wird sich zu Hause in seine zum Studio umgebaute Garage setzen, eine Gitarre auf den Schoß nehmen und seine Lieder singen können. Darin liegt eine Hoffnung. Für uns alle.
(Maik Brüggemeier, ROLLING STONE-Wohnzimmer, Folge 42, 18.09.2023)