Nachdem ich die Arbeit an meiner Tabaluga-Basteluhr ("für unsere kleinen Freunde") endlich für beendet erklärt hatte, fiel mein Blick zurück auf das Cover von Niels Freverts neuer Platte "Zettel auf dem Boden". Es kann kein Zufall sein, dachte ich, dass Frevert hier derart deutlich auf Bill Callahans "Sometimes I Wish We Were an Eagle" verweist: Auch in diesem Jahr gelang Callahan mit "Apocalypse" wieder das beste Album weltweit, und Frevert, ebenfalls ein Freund von Brüchen, Uneindeutigkeiten und Dingen, die einem unvermittelt wie Sand durch die Finger gleiten, müsste Callahan allem Ermessen nach für einen epochalen Songschreiber halten. Deutschland ist ja schon längst nicht mehr zu retten, doch während die tätowierten Ischen mit Basedow-Augen und die jungen, ungeschlachten Bauernmädchen mit Metall im Gesicht und Raucherhusten im Endstadium (Parodien auf die menschliche Form!) zu Gefühlsterroristen wie Tim Bendzko, Johannes Oerding oder Philipp Poisel ihre Reizwäsche bügeln, hören wir lieber immer wieder "Zettel auf dem Boden". Im ersten Stück singt Frevert von Schlangenlinien, Fledermäusen, Flugzeugfahnen und einem Abend unterm Wasserturm: Mich erinnert das an den ganz frühen Lindenberg, an "Daumen im Wind", "Leider nur ein Vakuum" und "Bitte keine Love-Story", an etwas wahnsinnig Altes und Versunkenes. Auch "Blinken am Horizont" und "Küchensee" sind brillant, denn es gibt nichts Aufdringliches, nichts Belästigendes in Freverts Betrachtungen: "Scherben bringen Glück/ Und Glück bringt Scherben/ Und ich gehe und hole/ Besen und Feudel". Niels Frevert arbeitet langsam und mit Sorgfalt, er ist ein stiller Helfer, der die Vorzeichen unseres Schicksals wie beiläufig benennt. Sollten wir ihm trauen? "Aber niemand wird kommen/ Dich zu retten/ Wie einen Regenwaldquadratmeter/ Oder ein WWF-Tier." 17 Millimeter fehlten ihm zum Glück.
(Jan Wigger, SPIEGEL ONLINE, 25.10.2011)
Menschen, Lieder, Sensationen: Nach nur drei Jahren Warten erscheint dieser Tage ein neues Album von Niels Frevert.
Der Typ, der nie übt, aber für das Verfassen seiner Texte mindestens so lange braucht, wie ein Eichhörnchen für eine Erdumrundung, hat sich sozusagen selbst übertroffen. Man kann von einem Schaffensrausch reden. Sie halten das Ergebnis in den Händen. Hören Sie nun, bitte, bevor Sie weiterlesen, die ersten drei, sechs oder zehn Lieder dieses Musikalbums ---
Wischen Sie sich jetzt das Wasser aus dem Gesicht, sammeln Sie sich, atmen Sie ausführlich aus; die Wärme kommt von innen. Sollten Sie hingegen nichts dergleichen spüren, sind Sie vermutlich tot.
Jedenfalls heißt Niels Freverts neues Album Zettel auf dem Boden . Gemeint sind jene Papierchen, die Menschen mit Nachrichten versehen und für ihre Lieben in der Wohnung liegen lassen, auf dem Boden, auf dem Tisch oder dem Kopfkissen. Hinter jedem dieser Zettel steckt eine Geschichte, und wenn man so will, ist jedes Lied auf dem neuen, vierten Album des Hamburger Musikers ein Zettel, eine Geschichte, eine Nachricht an den Hörer. Weniger verliebt formuliert: Frevert singt kaum noch über Innenansichten und Introspektives; sein Blick geht nach draußen in die Welt und die Leben der Leute. Exemplarisch dafür und beinahe wie eine Inhaltsangabe für das ganze Album ist der erste Song: Schlangenlinien . Eine Art Suite, in der Musik, Text und Gesang derart meisterhaft miteinander verwoben sind, dass man tatsächlich meint, Schlangenlinien zu fahren. Für Sekunden glaubt man gar zu schweben, oder nicht?
Herr Frevert und seine Musiker haben ihr Können ganz behutsam auf eine neue Ebene gehoben. Das Herz jedes Liedes bilden Akustikgitarre und Klavier, die Basis besteht aus Bass und Schlagzeug, und das alles wurde live eingespielt, elegant veredelt mit Streichern, Vibraphon, Bläsern, Akkordeon und Chören. So klingt das, wenn Fertigkeit, Selbstvertrauen und Gelassenheit zusammenkommen. Hier will niemand irgendwem irgendwas beweisen. Hier ist alles Musik, Herzlichkeit und Poesie ohne Pose.
Wie schon auf dem hoch gelobten Vorgängeralbum Du kannst mich an der Ecke rauslassen , besteht die Gang um Frevert aus Stephan Gade (Bass und mit Frevert Produzent der Platte), Tim Lorenz (Schlagzeug), Stefan Will (Piano), Dinesh Ketelsen (Aufnahme) und Peter Schmidt (Mischung). Hinzu gesellen sich Gastmusiker wie Martin Wenk von Calexico (Flügelhorn), Gisbert zu Knyphausen und Nils Koppruch (Chor). Und wie nennt man das jetzt, was die da gemacht haben? Chanson? Pop und Poesie? Ist ja auch egal. Ein Herman-van-Veen-Cover ist übrigens auch dabei.
Abschließend bleibt zu sagen, dass das neue Album von Niels Frevert jedem feinfühligen Menschen noch intensivere Glücksgefühle bescheren dürfte, als die Alben davor. Während die immer größer werdende Meute deutsch singender Gefühlsduselanten auf Allgemeinplätzen und mit einfachsten lyrischen Mitteln die emotionalen.
Erwartungshaltungen des Volkes bedient, ist der Typ aus Hamburg wie immer schon viel weiter. Seine klare Sprache macht Welten auf, seine Musik ist eine Umarmung. Oder noch verliebter formuliert: Scout Frevert reitet wieder. In den Sonnenaufgang. Ganz entspannt, schneller als der Schall.
(Tino Hanekamp)